50/17 oder ein Brevet muss erst gefahren werden

Autor
Andreas Herrmann
Datum
21.05.2011

Meine längste zurückgelegte Tagesstrecke lag bis dato bei 270 km. Unterbrochen von einem zweistündigen Rostbraten mit Spätzle-Massaker daheim bei Mama und abgeschlossen mit Gummibärchen-Mundraub-Überfällen auf sämtliche Tankstellen auf der Reutlinger Alb.

Ich bin also als Novize in die diesjährige Freiburger Brevet-Saison gestartet und war dementsprechend unsicher, was da auf mich zukommen sollte.

200er und 300er liefen bei tollem Wetter ganz easy und machten mir riesigen Spaß. BRM600 2011Beim 400er machte ich dann meine ersten längeren Nachterfahrungen. Diese Veranstaltung war so rundum gelungen, die Mitfahrer und die Streckenauswahl so hervorragend und vor allem mein Zustand nach 410 Kilometern immer noch so taufrisch, daß ich in meiner Euphorie doch glatt in die Fänge des berüchtigten Andechser-Urban geriet. Diese 5 Stunden im Anschluß an das Brevet waren dann auch die schwerste Prüfung bis dahin. Um korrekt zu bleiben, war es der darauffolgende Sonntag.

So hatte also der Großkotz in mir schon beschlossen, daß auch Paris-Brest-Paris wohl locker zu schaffen sein müsste, wenn nur das Ergattern des Startplatzes nicht so schwierig wäre. Zum Zeitpunkt der Abfahrt zum 600er-Brevet waren genau noch 38 Plätze für deutsche Teilnehmer offen. So belaberte ich mal wieder meinen Vereinskollegen Armin auf der Fahrt durch die Rheinebene mit meinen Startplatzsorgen. Dieser merkte in seiner zurückhaltenden, stoischen Art nur an: „Das Brevet muß erstmal gefahren werden. Dann kannst Du Dir Gedanken über den Startplatz machen.“ Ok, dachte ich, dann fahr ich mal. Und gab gleich richtig Gas um wenigstens einmal mit der ersten Gruppe bei der ersten Kontrollstelle anzukommen. Das gelang natürlich nicht. Dafür hatte ich mich gleich zu Beginn dermaßen abgeschossen, daß mich nur ein zweifaches Cheeseburger-Royal-Bonanza in La Chaux de Fonds zurück unter die Lebenden brachte. Durch den Dunst um die Vue auf les Alpes betrogen, schwebten wir durch das wunderschöne Hochtal nach Les Ponts de Martel. Bei einer kurzen Photosession kippte mein Rad um. Nix weiter passiert,  außer der Kleinigkeit, daß sich bei der anschliessenden Steigung das komplette Schaltwerk um die Kassette wickelte und erst mal Schluß mit lustig war. Diagnose: Schaltauge abgerissen, Schaltwerk verbogen, riesiger Achter am Hinterrad.Bild entfernt.

Ein kurzer Blick auf das Hinterrad und ein verstohlener auf den Tacho. Holy Macaroni! 220 Kilometer gefahren, Samstagabend um 18 Uhr und Du stehst mitten im französischen Niemandsland mit einem Haufen Carbon- und Aluschrott. Mein Hirn scannte die verschiedenen Szenarien durch:

1.  Hilfe suchen bei Aborigines. Die nächste Wirtschaft stürmen, mittels halb gewürgten, halb gestammelten Französischbrocken Mitleid produzieren. Dann vielleicht eine Werkstatt auftreiben oder Ersatzrad mieten/kaufen/stehlen, wenns sein muß mittels Bestechung, Erpressung oder Anwendung körperlicher Ermahnungen.
Obwohl ein paar leicht angeschickerte Juristen (oder wie heißen die Eingeborenen des Juras noch gleich?) Interesse hatten zu helfen und sich auch durchaus bemühten, kamen alle Beteiligten zum Schluß, daß es besser wäre sich (auch gerne gemeinsam mit mir) weiter zu besaufen und dann vielleicht morgen nach einer Lösung zu suchen. Als letztes Mittel immer eine gute Möglichkeit. Erstmal zurückstellen.

2. Einfach aufgeben. Das Kaff hatte tatsächlich einen winzigen Bahnhof, ein Zug würde sich auch noch auftreiben lassen und eine bequeme Ausrede den Kaugummihügeln der Nacht auszuweichen hätte man auch gefunden. Keine Option. Ich will nach Paris im August. Für einen weiteren Brevetversuch habe ich keine Zeit. Außerdem: Ich stamme aus dem Allgäu. Meine Sturheit ist also genetisch bedingt.

3. Warten bis Kollege Armin um die Ecke kommt. Zu meiner Freude geschah das sehr bald. Nach vielen Kollegen, die beim Vorbeifahren aufmunternde und tröstende Worte hatten (fand ich auch sehr nett) fühlte er sich dazu berufen, anzuhalten und Hand anzulegen. Er schaute sich das Schlamassel an und meinte ganz ruhig: „Eventuell könnten wir die Kette kürzen und ein Singlespeed daraus bauen.“
In aller Seelenruhe machte er sich an die Arbeit und schaffte es tatsächlich mit seinem Mintool, die Kette so zu kürzen, daß wir vorne das große Blatt und hinten das 17er zur Verfügung hatten. Leider wollte sich das Hinterrad nicht drehen. Die Speichen waren arg verbogen, dadurch hatte das Teil einen ziemlichen Schlag. Mit dem Speichenschlüssel des Wunderwerkzeugs drehte er ein bißchen an den Speichen rum, ich hängte die Hinterbremse aus und das Rad drehte sich ohne zu schleifen und eierte auch gar nicht so stark. (Kinder: Don´t try this at home! Ein Rad braucht IMMER zwei funktionierende Bremsen, sonst schimpft der Onkel von der Polizei).

Ein kurzer Probeantritt. Das Ding hielt! Ich fuhr in den ersten Berg rein und Armin, mein privater ADFC-Engel, versuchte sich die zentimerdicken Schmierschichten von den Händen und aus dem Gesicht zu kratzen, was selbstverständlich mißlang.  So mußte der arme Kerl reichlich angeschwärzt mit mir durch die spektakuläre, gewitterschwangere Abendstimmung im Jura gondeln, bis uns der schwarze Himmel einholte. In einem Wäldchen machten wir eine Umkleidepause.

Durch den Gewitterregen stürzten wir uns todesmutig gen Pontarlier und gleich weiter nach Champagnole.

Es lief überraschend rund mit meinem Gefährt. In der  Ebene konnte ich bis ungefähr 30 oder  33 mithalten, am Berg mußte ich relativ bald aus dem Sattel, kam aber bis  7 % einigermaßen den Hang hoch. Als Joker hatte ich ja noch meine Mountainbike-Schuhe an, die ich für den 600er angezogen hatte, denn bei den ersten drei Brevets hatten meine Rennradschuhe erhebliche Taubheitsgefühle verursacht. So war Schieben also kein Problem und ich rechnete wirklich damit, viel Zeit mit „Velo stoßen“ verbringen zu müssen. Um es vorweg zu nehmen: Die Streckenbeschreibung war sehr akkurat. Außer der Passage nach der Schlucht vor Pontarlier war die Straße nirgends mehr steiler als 8%, ich konnte also bis heim nach Freiburg alles fahren.

In der „Pizza-Bar am Ende des Universums“ in Champagnole schien im Hauptraum die lokale Sektion der anonymen Landmaschinenmechaniker ein Leistungstrinken auszutragen, im Hinterzimmer war Randonneursball. Eine Stunde und eine Portion Fett und Kohlenhydrate in Pizzaform später, stiegen mein treuer Begleiter und ich wieder auf Trekkingmöhre und Singlespeed-Rosinante. Der Ritt über die D492 nach Baume-les-Dames war ein Erlebnis der eigenen Art. Ich war so völlig bei mir und auf meine Sache fokussiert, wie man es nur bei Ausdauerleistungen sein kann. Alles andere, alle Sorgen, das ganze Weltgeschehen – ausgeblendet. Deswegen liebe ich diese langen Dinger so. Nur Du und die Aufgabe.

Die Steigungen zählte ich runter, gab den Wellen Namen, rechnete die Rest-Höhenmeter und stampfte in die Pedale. Ab und zu gab es ein Päuschen mit Wasserfassen und – ich erinnere mich noch genau – ein Doppelsnickers mit Bifi-Mini-Roll – als ich einen der Buckel nur noch mit Schwindelgefühlen hochdrücken konnte.

Irgendwann nachdem wir die Autobahn unterquert hatten, ging langsam die Sonne auf und wir radelten gemütlich mit sanfter Steigung an einem  Bach entlang. In dieser entrückten Stimmung glaubte ich zum ersten Mal daran, es tatsächlich bis Freiburg schaffen zu können. Denn hatten die in Vesoul nicht einen Fahrradclub? Sollten meinem Göppel noch was passieren, konnte ich sicherlich den dortigen Präsi dazu plattlabern, mir ein Leihvelo zur Verfügung zu stellen. Durch solcherlei Gedanken und die ersten Sonnenstrahlen erwärmt, verflogen die letzten Schlafanwandlungen. Am Rand der Landstrasse nach Vesoul trafen wir schließlich auf einen Kollegen, dem die Kette gerissen war. Ein paar einheimische Frühangler mit Adiletten und weißen Frotteesocken (der Mode nach möglicherweise verkappte französische Randonneure?) umringten ihn und schauten interessiert bei seinen Reparaturversuchen zu. Fast müßig zu erwähnen, daß Armin wieder seinen magischen Kettennieter rausholte und das Ding richtete. Bei diesem Brevet hatte er einfach den schwarzen Daumen des Pannenhelfers (Originalzitat: „Haha, dabei bin ich der Einzige im Verein, der sein Rad immer in die Werkstatt bringt. Ich mache eigentlich nix selber“. Das aber sehr gut, mein Lieber!).

In der Gruppe die sich nun gefunden hatte, rollten wir bei herrlichem Wetter durch die Vogesenausläufer. Hier mußte ich gezwungenermaßen nochmal die Singlespeed-Show abziehen. Jeden Hügel mit vollem Schwung und der ganz großen Keule anfahren, um zu verhindern, daß ich die letzten Meter schieben mußte. Diese Schmach blieb mir erspart, aber manchmal nur sehr knapp. Ich verschoß meine letzten Körner und mußte auf den flachen Passagen im Rheintal dann noch ein bißchen leiden. Ich wollte die netten Jungs um mich ja nicht zu sehr behindern. Wie ein Hamster auf Ecstasy rödelte ich auf meinem Rädchen rum. Ein krasser Gegensatz zu dem Gestampfe der letzten Stunden.

Als auch das überstanden war,  fuhren wir kurz vor Freiburg noch der großen, schwarzen Wand davon, die dem Vernehmen nach noch etliche Teilnehmer voll erwischt hatte. Meine geflickschusterte Resterampe hatte mich tatsächlich zurück zum Augustiner getragen. War ich stolz! Die Story musste ich natürlich jedem gleich auf die Nase binden. Diesmal schafften es Alkoholfrei-Urban und ich sogar, uns länger zu unterhalten, ohne literweise Angegorenes in uns hineinzuschütten.

Mit etwas Abstand sieht es so aus:
Der 600er als Prüfung alleine ist hart genug. Auf den zusätzlichen Streß hätte ich gerne verzichtet. So schlimm war es aber auch wieder nicht. Die Steigungen waren moderat und ich hatte immer Menschen um mich, die mir im Notfall geholfen hätten und die mich in der Nacht nicht alleine gelassen hätten. Also halb so wild. Ohne Kollegen wie Armin wäre das Brevetfahren nur halb so schön. Einmal abgesehen davon, daß ich ohne seine Pannenhilfe mein großes Ziel Paris nie hätte erreichen können: Nein, er blieb auch die ganze Nacht bei mir, obwohl er viel schneller hätte fahren können und es ihm sicherlich nicht leicht fiel, so zu schleichen. Schließlich war es für ihn schon die zweite Nacht ohne Schlaf, da er schon Freitagnacht mit dem Rad von Tübingen nach Freiburg gereist war. Hut ab und dicken Respekt!!!

Meine Waden sind immer noch „per Sie“ mit mir und werden wohl auch noch ein paar Tage schmollen. Ich wäre aber auch enttäuscht gewesen, wenn mein Körper gar keine Rückmeldung gegeben hätte.

Ich habe Schmerzen, also bin ich!

Urban und Walter, Ihr habt eine wirklich tolle Serie organisiert und Menschen wir mir die Möglichkeit gegeben, lange nachwirkende Erfahrungen zu machen. Vielen herzlichen Dank für Euer Engagement, Eure freundliche Art und Euren Humor.

So, „das Brevet IST gefahren“. Jetzt will ich auch einen Startplatz.

Bis dann in Paris.

Andi