Ist der Randonneur eine Amphibie?

Autor
Urban Hilpert
Datum
29.05.2010

 - Jura-Brevet 2010

Anlässe zu dieser Frage boten sich in meiner „Karriere“ als Langstreckenradfahrer schon mehr als genug. Legendärer Höhepunkt was Dauerregen betrifft war Paris-Brest-Paris 2007 – in der Erinnerung ver“schwimmen“ die gesamten 1200 Kilometer zu einem Wust aus den verschiedensten Arten des Regens: Geklatscht, getropft, genieselt, gesprüht, gegossen, geschüttet, ins Gesicht gepeitscht, vom Hinterrad des Vordermanns ins Nasenloch gespritzt oder auch mal einfach durch Nebel genässt. Tatsächlich waren es aber nur 600 Kilometer Dauerregen gewesen, die Rückfahrt war dann durchaus durch verschiedene trockene Abschnitte geprägt und unterbrochen. Aber: Als schlimm habe ich persönlich es zu keinem Zeitpunkt empfunden – es war relativ warm. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich für mich das Amphibische des Randonneurings mental bereits weitgehend akzeptiert habe.

Unser Jura-Brevet wird ganz sicher nicht so legendär wie PBP 2007, aber was da alles innerhalb von zehn Stunden runterkam, wird auch den erfahrensten Teilnehmern als nicht ganz gewöhnlich in Erinnerung bleiben. Pünktlich um Mitternacht ging´s los.BRM600 2010

Während die erste Gruppe (ich will´s mal glauben, es war noch nicht spät genug für Halluzinationen) noch von einem Luchs überrascht wurde, sind wir wenige Stunden später an dieser Stelle bereits die letzten existierenden Säugetiere auf der Straße. Die echten Amphibien haben die Herrschaft übernommen: Unzählige Frösche hüpfen vor uns im grellen Scheinwerferlicht über die Fahrbahn. Obwohl angeblich wechselwarm, sind sie trotz Temperaturen von unter zehn Grad sichtlich springlebendig und voll in ihrem Element, genau wie die sich zwischendurch wohlig ringelnden Regenwürmer – an diese Situation eindeutig besser angepasst als wir, die sich selbst so nennende „Krone der Schöpfung“. Da war die eine Stelle, wo der eine Frosch fast schon nicht mehr hüpfen musste, sondern sich in dem flachen Anstieg ganz einfach hätte in den Wassermassen bergab treiben lassen können, wenn er nicht jäh von einem Schwalbe Durano Reflex, 25mm überrollt worden wäre. Ein Punkt für Säugetier.

Wie aus allen menschlichen Schwächen und Unzulänglichkeiten sucht auch hier eine ganze Industrie Kapital zu schlagen. Wasserdicht und Atmungsaktiv. Es gibt wohl kaum eine größere Werbelüge. Wie um Himmels willen kann man diese dünnen Plastikfetzen, die da traurig an uns kleben wie nasse Lappen als „aktiv“ bezeichnen? Der einzige aktive Teil in diesem ausgeklügelten System von „Outer Wear“, „Windshield“ „Insulation Wear“ und verschiedenen anderen vollgesogenen Bekleidungsschichten mit hochtrabenden Namen ist ja wohl der Mensch, das leidende, frierende Ich. Vom Sinn von Überschuhen will ich in diesem Zusammenhang schon gar nicht mehr anfangen…

Was nun tut der gemeine Randonneur in einer solchen Situation?
Er fährt. Stoisch. Tritt um Tritt. Unbeeindruckt?
Bei Temperaturen von unter zehn Grad wird er von Fluchtgedanken heimgesucht. Sein Blick irrt suchend immer flehentlicher an den dunklen Straßenrändern entlang, ob die Nacht nicht doch etwas bietet um der immer unangenehmer und bedrohlich werdenden Situation zu entfliehen. Schließlich ist der Mensch als Rasse ein soziales Wesen und hat die gesamte Erde bevölkert. Warum nur nicht hier im Jura?  Kein Haus, nichts. Dann doch ein Ort, stockdunkel, Häuser gebaut wie Burgen, jämmerliche Vordächer. Die Orte scheinen unbewohnt – ist es denkbar, dass da drinnen menschliche Wesen in warmen, wohligen Betten liegen? Soll man es zum Äußersten kommen lassen und die Mitgeschöpfe an ihre menschliche, soziale Pflicht des Mitleids erinnern? Auf einmal bekommen die in unserer Gesellschaft schon fast abgeschmackten Begriffe wie „christliche Nächstenliebe“ wieder Sinn.

Kleiner Einschub: Einer unsere Mitstreiter, der sich in den EC-Vorraum einer Bank geflüchtet hatte und ausgestiegen war aus dem frustrierenden Kreislauf von frieren, antrocknen und wieder nass werden, wurde in der Früh vom allerersten Bankkunden mit nach Hause genommen und er durfte einen netten Morgen bei Kaffee, Frühstück und Konversation verbringen, bis er von seiner Frau abgeholt wurde. Man trifft sie dann doch noch allerorten, die „Menschlichkeit“…

Kalte Bushaltestellen laden zu ungemütlichen Kurz-Stopps ein, bis der Schüttelfrost einsetzt. Dann schon lieber fahren. Schreien. BRM600 2010Lautesten Unsinn vor sich her schreien und singen hilft gegen Müdigkeit und Frieren. Das habe ich in dieser Nacht von einem meiner Mitfahrer gelernt. Er fuhr vor, damit wir den Unsinn nicht mehr hören mussten und fing an, vor sich herzuschreien und zu blabbern, irgendwas. Ich folgte ihm, tat es ihm nach, hatte auch Erfolg, eingeschlafen bin ich nicht, aber der Hals tut mir heute noch weh. Es gibt auch Leute, die sich Limericks ausdenken. Jede Art der Ablenkung hilft. Ich will aus diesem frierenden Körper raus.

Da, Ornans, sechs Uhr morgens. Die Dunkelheit ist irgendwie gewichen, von Helligkeit kann aber keine Rede sein. Nach einer Abfahrt von sechs Kilometern sind wir kaum noch fähig, vom Rad zu steigen, steifgefroren. BRM600 2010Eine beleuchtete, warme Bäckerei. Im Hintergrund ein schwitzender Bäcker vor frischen Baguettes. Zu. Heftiges Klopfen an die Scheibe. Die an der Theke stehende Frau ignoriert uns ganz bewusst. Wir werden heftiger, so lange, bis ein Ignorieren nicht mehr möglich ist. Bevor wir die Scheibe einschlagen, kommt sie, öffnet die Tür einen Spalt, gerade so weit, dass wir die herausdrängende Wärme spüren und den betörenden Geruch fast schon fühlen können und sagt ganz einfach: Wir machen dann um sieben auf. Ein abschätzender Blick, sie will ihre Bude wegen ein paar tropfenden Radlern nicht komplett aufwischen und lässt uns nicht rein. Aus ihrer Sicht absolut verständlich, aber Ornans bekommt einen Punkt Abzug.
Ornans hat in meiner Erinnerung viele Punkte als randonneursfreundlicher Ort gesammelt. Bei einem Brevet vor ein paar Jahren: Ein französischer Fahrer, durchgefroren, verzweifelt - er fuhr in kurzen Hosen und hatte auch nicht mehr dabei - bat eine elegante Dame aus einer Hochzeitsgesellschaft um ihre Feinstrumpfhosen um wenigstens einen Teil seiner Blössen zu bedecken. Mitten auf der Straße, nachts um Drei. Was soll ich sagen - er hat sie dann tatsächlich auch bekommen, die so reizend angewärmten Strumpfhosen und sie haben, owohl so zweckentfremded, trotzdem ganz gute Dienste geleistet, so weit ich weiß.
Auch sonst hat uns Ornans schon einige Male gut beherbergt und Punkte sammeln können.
In der Ortsmitte dann noch mal eine Bäckerei – offen!!  Freundlicher, junger Kerl an der Theke. Was in Frankreich total ungewöhnlich ist: Bäckerei mit Sitzecke und Kaffee!!
Ornans erhält fünftausend Punkte, der nette junge Mann hinter der Theke für die Zusatzarbeit – noch während wir vor der Theke stehen, tropft mindestens ein halber Liter aus jedem raus – ein ordentliches Trinkgeld.

Was tut dann ein Randonneur, nach Genuss und Verzehr von drei Tassen Kaffee (eine davon mit zitternden Händen verschüttet), zwei Croissants, Pain au Raisin, Pain au Chocolat und der pfannkuchenartigen Spezialität mit Aprikosengeschmack, von der ich nie den Namen wissen werde? Wenn er nicht mehr tropft und die Finger wieder bewegen kann? Er geht raus in den noch immer strömenden Regen und fährt, stoisch, bis es wieder nicht mehr geht, bis sich das Bäckerei-Spiel wiederholt oder er den Bettel irgendwann einmal dann doch endgültig hinschmeißt.
Mitten am Vormittag der finale Höhepunkt: Solche Wassermassen stürzten vom Himmel, dass ich mich fühlte, wie in einem Aquarium – vor meinem geistigen Auge schwammen Goldfische, aber es war da nur der Tom in seiner roten Regenjacke, den ich direkt vor mir nur noch schemenhaft wahrnehmen konnte. Nach dem Brevet machten Worte von Apnoe-Randonneuring die Runde.

Dann - fast schlagartig - alles vorbei. Während zur selben Zeit die Spitzengruppe im leicht abnehmenden Regen in Freiburg ankam, saßen wir in der warmen Sonne noch hundertfünfzig Kilometer entfernt in Vesoul. Mittelmeer-Atmosphäre, französisches Lebensgefühl,  Männer in Shorts, Frauen in Tops und kurzen Röckchen bevölkerten die Straßencafes oder flanierten Eis schlotzend durch die Fußgängerzone - so rein gar nichts mehr erinnerte an die Schrecken der Nacht, die hinter uns lag.

Wir hatten den längeren Atem gehabt, wir hatten gewonnen. Aber es war knapp gewesen, es hatte alles gebraucht. Jetzt lagen nur noch läppische hundertfünfzig Kilometer vor uns - in Sonne und, quasi als Belohnung, getragen von einem Rückenwind, der fast schon als leichter Sturm durchgehen durfte. Was bei Brevets recht selten vorkommt: Der Schluss des Feldes wurde durch den Wetterumschwung so richtig belohnt, mit einem herrlichen Nachmittag. Das Wetter war wieder unser Freund und die Welt ganz einfach wunderbar. Wir hätten es auch völlig ungetrübt geniessen können, wären wir nicht so kaputt gewesen... Trotzdem rollten wir Kilometer um Kilometer zufrieden und glücklich der Heimat entgegen, endgültig von tiefster Zufriedenheit und Dankbarkeit erfüllt, als wir die Räder an der Pforte des "Augustiners" zum letzten Mal abstellen konnten.

BRM600 2010Gerd, unser Käpt´n vom Fleche, mit dem wir gerade mal vierzehn Tage vorher die letzte heftige Regenschlacht Richtung Eisenach geschlagen haben, ist fest davon überzeugt, dass schon in der nächsten Randonneursgeneration erste Andeutungen von Schwimmhäuten zwischen den Zehen sichtbar sein werden, als erste Anzeichen von Anpassung und Rückentwicklung. Warum aber Rückentwicklung? Die Evolution geht weiter und es könnten sich durchaus weitere zweckmäßige Anpassungen herausbilden wie z.B. einklickbare Sattelstützenadapter am Hintern ohne Auflagefläche – das Leben bildet wahrscheinlich Formen aus, die unsere Phantasie weit übertreffen werden. Ob alle diese Anpassungen des Randonneurs positiv sein werden, bleibt aber noch dahingestellt – z.B. wäre ein massiv verkleinertes Hirn, das nicht mehr darüber nachdenkt, warum man das überhaupt macht, wohl sogar förderlich in diesem „Sport“.

Evolutionär gesehen sind wir Randonneure mit unseren gerade mal knapp über hundert Jahren Existenz wohl nur eine Allererste, an die speziellen Anforderungen des Langstreckenradfahrens noch denkbar schlecht angepasste Unterform des Homo Sapiens.

Ob sie Bestand haben oder zusammen mit dem Homo Sapiens untergehen wird, wird wohl die Zukunft weisen...