Versöhnung

Autor
Philip Hinüber
Datum
01.01.2016

Am frühen Morgen des 25. März 2015 war es soweit: Die Stunde hatte geschlagen für das aufregendste 600er Brevet, das ich bis dahin absolviert hatte. Diesmal 600km in den Süden, Oneway. Ohne die Versicherung, dass nach 600km alles vorbei sein würde und man sich dann wieder in den eigenen 4 Wänden an Küche, Dusche und Bett bedienen könnte.

Dementsprechend ging diesem frühen Brevet im Jahr von Freiburg zum Mont Ventoux eine deutlich aufwendigere Planung voraus, die ich erst nach und nach realisierte.

BRM600 2016Da ich zum regulären 600er Brevet in Freiburg später im Jahr verhindert gewesen wäre und Paris-Brest-Paris für den August 2015 fest eingeplant war, lag es auf der Hand, die Anmeldung für dieses Abenteuer auszufüllen. Und durch die schönen Jahre und guten Erfahrungen zuvor bei ARA Breisgau war mir klar, dass die Veranstalter wieder für höchste Genüsse unterwegs sorgen würden.

So begann schon gleich nach Neujahr die vorsichtige Planung: Hotelreservierungen und Zugrückfahrkarte, ein paar kleine Umbauten am inzwischen schon im Herbst des Lebens angelangten Rennrad, sowie viele Detaillösungen wie eine Verpackung für das Rad haben sehr viel Aufwand und Zeit gekostet. Dabei stieg die Vorfreude auf den grossen Moment von Tag zu Tag.

Eine knappe Woche vor dem Start dann die grosse Ernüchterung beim Blick auf die Wetteraussicht. Entgegen des guten Ratschlages von Urban betrachtete ich die Wettervorhersagen für unseren Streckenverlauf sehr genau und bekam dabei schlechte Laune. So schlecht, dass mir bewusst wurde, wie sehr ich innerlich schon seit Wochen auf diese grosse Fahrt hingefiebert hatte.

So begab ich mich 2 Tage vor Start komplett in die Hände des Schicksals bzw. der Veranstalter und überspielte ohne Nachfragen die 3 Streckentracks auf mein GPS, die zu Auswahl standen. Am Abend vor dem frühen Start um 05:30 Uhr gab es ein letztes Briefing im Augustiner, beidem ich den endgültigen Track aktivierte, der angegeben wurde.
Die Stimmung war merklich angespannter als vor anderen Brevets. Ich traue mich zu verallgemeinern, dass die meisten nicht genau wussten, was die nächsten 48 Stunden auf sie zukommen würde. Neben mir sass Heikki, mit dem ich schon manche Strecke sehr angenehm zusammen gefahren war. Und so verabredeten wir uns , dass man ja schauen könnte, wie es so laufen würde und bei passender Verfassung gemeinsam die Strecke in Angriff nehmen könnte. 1 Getränk später befand ich mich auch schon auf dem Weg zu einer vorerst letzten Nacht zu Hause. Das Fahrrad stand gepackt bereit, deutlich voller beladen als sonst. Aber so gut es mich auch auf den bisherigen Brevets begleitet hatte, so rund lief es nun auch wieder bei den Trainings-und Testfahrten unter grösserem Gepäck.

Ich ging zu Bett und stand um 4:30 Uhr wieder auf, um das grosse Abenteuer zu beginnen.Das Wetter war ideal, trocken, nicht zu kalt für den März. Bei der Einfahrt zum Busbahnhof Freiburg erblickte ich das erwartete Rennfahrerbündel aus Leuchtwesten und Rennrädern zunächst nicht. Entdeckt wurde es von mir dahinter in der Bahnhofshalle, in der die Randonneure umso mehr auffielen.

Die Unruhe war hier nun noch deutlicher zu spüren. Aufmunternde Blicke in die Gesichter wurden nicht immer erwidert, hier und da noch ein ziehen und zurren an den Gepäcktaschen, dann der unspektakuläre Start von einem kleinen Grüppchen Radfahrer zu einem spektakulären Brevet durch Deutschland, die Schweiz und Frankreich bis in die Provence. Langsam setzte sich die Gruppe in Bewegung, um dann gleich schnell an Fahrt aufzunehmen. Die stets aufkommende Nervosität zu Beginn eines Brevets war auch hier deutlich zu spüren. Ich versuchte, mich nicht anstecken zu lassen und sortierte mich im hinteren Feld ein.

Mit ca. 30km/h glitten wir um 05:30 Uhr durch Freiburg, das zu dieser Zeit noch nicht aufgewacht war. Auch unter den Randonneuren herrschte Schweigen und in einem Pulk folgten wir der ausfallenden Strasse auf dem Radweg. Dann war ein Wechsel vom Radweg auf die Straße nötig, allerdings stand an diesem Punkt aufgrund einer abzweigenden Straße ein Verkehrsschild für die Autofahrer in ca. 1 Meter Höhe, das bei einer Fahrt in der Gruppe entsprechend schwer zu erkennen war. Nachdem mein Vordermann wie auch dessen Vordermänner das Schild knapp umfahren hatte, tauchte das Schild nun nach meinem kurzen Schulterblick auf die Strasse unmittelbar vor meinem Lenker auf.

Was folgte, waren Bruchteile von Schrecken, Verzweiflung, nicht-wahrhaben-wollen und Handeln. Für ein Ausweichen war es zu spät, das merkte ich sofort. Was zu diesem Zeitpunkt durch meinen Kopf ging: „Ein Unfall-ein schlimmer Unfall-das darf nicht passieren-wieso passiert es Dir, wo Du immer auf die Sicherheit achtest und keine unnötigen Risiken eingehst-was für Verletzungen wirst Du davon tragen-die wochenlangen Planungen können doch nicht nach 2km zu Ende sein“. Ich nutzte die verbleibende Zeit, um wenigsten den Lenker ganz gerade zu halten, um mit meiner Ortlieblenkertasche frontal auf das Schild zu prallen. Was folgte: Eine klassische Rolle über den Lenker und der Sturz auf die Straße. Allgemeine Betroffenheit im Feld, Schreckensausrufe, Beileidsbekundungen.

Ich stand schnell auf, ging demonstrativ eine Runde um mein Rad und teilte schnell mit, dass ich zu Person, Ort, Zeit und Situation voll orientiert sei. Gleichzeitig wusste ich sofort, dass mindestens dieses Brevet für mich zu Ende ist. Erwähnenswert auch, dass der Unfallort auf der 600km langen Strecke der war, der Luftlinie am nächsten von meiner Haustür entfernt war, ca. 1,5 km. Nach gutem Zureden der Kollegen und dem Rat von Urban, dass die nächsten Radläden zur Reparatur bald öffnen würden, war die Sache für mich erledigt. Die Gruppe fuhr weiter, ich blieb am Strassenrand zurück. Ernüchterung. Das linke Handgelenk schmerzte, das Bein tat weh. Schürfwunden am Körper, nicht absehbare Schäden am Fahrrad. Ich trat unter Schmerzen zu Fuss den Heimweg an. Unterwegs entwich mir noch der ein oder andere Fluch. Und ärgerte mich darüber, nicht wenigstens mein TGV-Rückfahrticket an die Gruppe abgegeben zu haben.
Zu Hause dann: Schmollen. Und der Gang in die Notaufnahme. Diagnose: Glück gehabt. Eine Schiene am Daumen und 3 Besuche beim Handchirurgen, keine Langzeitschäden. Und einen Bluterguss in Form und Grösse des Verkehrsschildes am Oberschenkel.

Im Krankenhaus dann das Scherzen mit den Ärzten, dass dies einem höheren Zweck diente und es mich wahrscheinlich sonst auf der Fahrt im Vercors weit schlimmer erwischt hätte. Und nach und nach die Erkenntnis, dass es nun manchmal auch so laufen kann und man nicht alles in der Hand hat. Manchmal ist man der Hund, manchmal aber auch der Baum. Für die Saison bedeutete dies für mich: keine weiteren Brevets (die erste Saison ohne eine Homologation) und kein Paris-Brest-Paris 2015.
Aber gut davongekommen.