600 km Brevet als Frühjahrstraining !(?)

Autor
Doris Hermanns
Datum
13.04.2015

Mit der Ankündigung meiner Pläne  im März  2015 600 km in die Provence zu fahren, hielt ich mich ziemlich zurück. Eigentlich kann dies niemand für gut heißen, sich so früh im Jahr zu verausgaben,  sich den widrigen Wetterbedingungen auszusetzen und, und, und… . Es gibt noch viele Gründe, die dagegen sprechen, aber auch sehnsuchtsvolle Gedanken an eine Herausforderung, die einem dem Alltag entreißen und neuen Schwung in die wintermüden Knochen bringt. So befasste ich mich gleich nach der Ausschreibung dieses gewagten Brevets mit der Umsetzung. Weniger durch körperliches Training, als durch Mentales und einiger Schlechtwetterversuchsfahrten. BRM600 2015Dabei kam mir eine lieb gewonnene Tradition, im Winter jeden Monat eine 200 km Nachtfahrt zu machen, sehr entgegen. Man trifft sich mit netten Leuten und kann auf autofreien Straßen gemütlich seine Ausrüstung bei den unterschiedlichsten Wetterbedingungen erproben. Dabei ist es nicht wichtig besonders schnell unterwegs zu sein,  sondern überhaupt zu starten, egal was die Wetterdienste ankündigen. So fuhren wir diesen Winter von 8 Grad minus bis 12 Grad plus incl. Starkregen und Wind durch die Nacht.

Also war das Wetter für mich weniger das Thema, bedauerte es fast, dass die Tour durchs Jura wegen Schneefall kurzfristig gestrichen wurde. Natürlich gebe ich zu, dass meine Chancen bei der Fahrt durch die Schweiz dadurch stiegen, hätte mich aber auch der Herausforderung über die Berge gestellt um dann vielleicht bei einer schneebedeckten Abfahrt zu kapitulieren. Die Entscheidung 0 Grad bei Schnee gegen 6 Grad im Regen einzutauschen war schon gut, so blieben noch 25 weitere Mitstreiter übrig die unerschrocken sich in der Früh am Bahnhof in Freiburg trafen. Viele mit dem durchaus vernünftigen Gedanken, es wäre schön, es als Brevet zu schaffen, aber sollten die Bedingungen sich so verschlechtern, auch längere Zeit dafür einzuplanen.

Am Vortag herrschten in Freiburg milde vorsommerliche Temperaturen, trotzdem kühlte es ziemlich ab, aber es war noch trocken.  Kurz wurde mal erwähnt, zumindest bis Basel zusammenzubleiben, was allerdings bei dem uns freundlich gesinnten Rückenwind schnell vergessen war. So dauerte es keine 25 Kilometer und ich befand mich alleine auf der Strecke. Die Luft roch bereits feucht, welches jedoch für die Rheinebene im Gegensatz zu Bayern, durchaus normal ist. Und wie ich mir schon dachte, dauerte es nur bis zum ersten kleinen Anstieg bis eine Gruppe auf mich auflief. Ich strengte mich an dran zu bleiben, denn vor uns lag das Straßengewirr von Weil und Basel. Mir blieb auch nichts anderes übrig, da die Gruppe incl. Urban und Walter verkehrsberuhigte Straßen außerhalb des Tracks bevorzugten. Basel im morgendlichen Berufsverkehr mit Baustellenumleitungen war, um es milde auszudrücken, sehr gewöhnungsbedürftig. Der Zeitaufwand wegen Ampeln und Streckensuche immens. Endlich diesem Konglomerat aus Straßen und Brücken entkommen, fragte ich mich, ob sämtliche Autos der Schweiz just zum gleichen Moment in Basel waren. Wir näherten uns dem Hauensteinpass, jeder kramte in der Tasche nach etwas Essbarem und ich verabschiedete mich von der Gruppe um in meinem Tempo weiterzufahren. Das Wetter hielt, mein Bestreben war, so weit wie möglich zu kommen, bevor der Regen einsetzt. Ich erreichte bald Solothurn, und traf dort einen weiteren Randonneur, der kurze Zeit später seine Mittagspause antrat. Für mich kam das nicht in Frage, denn bei vielen Besuchen in der Schweiz lernte ich das allzu gemütliche Zeremoniell der Essensbestellung kennen und hatte mir vorgenommen, sollte ich jemals ein Brevet durch die Schweiz fahren, nehme ich meine komplette Essensration mit. So war ich voll bepackt mit Käsebrötchen, Laugengebäck und Müsli. Entschied mich allerdings für einen Kraftriegel, der in Kombination mit 1l Grapefruitsaft, nicht allzu bekömmlich war. Ja, auch die Essgewohnheiten wollen erprobt sein. Es soll  auch Radfahrer geben die, im Selbstversuch,  Kartoffelpüree Pulver in Orangensaft auflösen um den erforderlichen Kalorienbedarf zu decken.

Immer wieder wagte ich einen Blick über meine rechte Schulter aufs Jura, das wolkenverhangen kaum zu erkennen war. Wie schön und trocken es hier unten doch ist! So hangelte ich mich, über einen Anstieg hinweg, hinunter nach Lausanne um dieses im abendlichen Berufsverkehr durchkreuzen zu dürfen. Stoßstange an Stoßstange, zwischen den Autos auf mehrspurigen Straßen, diesmal noch auf hügeligem Gelände und endlich einsetzendem Regen. Urban sagte öfters in Lausanne regnet es, und so sollte es auch sein, schon an der Stadtgrenze fielen die ersten Tropfen, die dann auf dem Weg nach Genf, stets am See entlang, sich zu einem kräftigeren Regen vermehrten.  Währenddessen beschäftigte ich mich mit dem intensiven Studium der Schweizer Radwege. Und, als ich es dann durchschaut hatte und auch die Beleuchtungen interpretieren konnte, muss ich sagen, fand ich es sehr benutzerfreundlich. Auf den bereits hinter mir liegenden 240 km durch die Schweiz, meist auf großen Straßen mit hoher Verkehrsdichte, fühlte ich mich stets sicher. Selbst im dichten Berufsverkehr waren die Autofahrer an Velos gewöhnt und ließen Platz zum Spurwechsel. Auch war es jederzeit möglich vom Radweg auf die Straße zu wechseln und nicht abgesperrt zu sein durch hohe Leitplanken oder tiefe Gräben. Randsteine waren im Kreisverkehr stets abgeflacht und nur ein parkendes Auto fand ich auf dem Radweg vor. So fuhr ich durch Genf, um dann festzustellen, dass es eine Steigerung gibt: Schienenfahrzeuge und bedingt manövrierfähige Busse mit Oberleitungen, mit denen ich mich auseinandersetzen durfte.

Und endlich war sie da, die lang ersehnte Brücke, über den  Rhone. Ja, ratter ratter, auch den groben Straßenbelag nahm ich freudig zur Kenntnis, das auf und ab, keine Egalisierung des Terrains, die einsamen Straßen durch dunkle Wälder, ich war wieder da wo ich hinwollte. Der Regen ließ nach und Frankreich heißt mich willkommen. Mittlerweile, bei Bellegarde, traf ich auch nochmals Heikki, ein Schweizer Kollege, und Manfred, und wir blieben in dieser Konstellation die Nacht über größtenteils zusammen. Nun folgte ein schönes, touristisches Gebiet entlang der Rhone mit Häfen und netten Städtchen. Auf einigen Abfahrten konnten wir erahnen wie schön es hier ist. Leider war es auch schwierig an der Rhone, durch die vielen Seitenarme, den richtigen Weg zu finden, so dass wir 2 km Schotterpiste in Kauf nehmen mussten. Bis zur Kontrolle vier in Grand Lemps wurde es bereits hell und die duftenden Backwaren aus den Boulangerien luden zu einem Kaffee und Verweilen ein. Nun lagen noch 170 km vor uns, aber auch etliche Höhenmeter durchs Vercour. Jeder rechnete für sich sein Weiterkommen aus und fuhr auch im persönlichen Tempo. Also war ich auch bald wieder alleine, zuerst ging es nochmals zügig mit Rückenwind und dann stetig bergauf. Voll Spannung wartete ich auf das Gebiet, das ich bisher nur nachts durchfahren durfte. Pont en Royans im Vercors sieht am Tag noch spektakulärer aus als es die Nacht vermuten lässt. Ist man in der Nacht eher auf die Geräusche der Umgebung in den menschenleeren Gassen konzentriert, baut sich am Tag ein Dorf vor gigantischer Bergkulisse am Hang auf, durchbrochen für den Durchlass der La Bourne, die mit lautem Getöse hinabrauscht.  Nein, es war kein Fehler, die Strapazen einer solchen Tour so früh im Jahr auf sich zu nehmen! Mittlerweile fieberte ich dem nächsten Aufstieg entgegen. Wenigstens eine Stunde Schlaf hätte mir schon gut getan und bestimmt etwas mein Tempo erhöht, doch ab nun waren die GBRM600 2015edanken bereits im Ziel und ich wollte weiter durch diese wunderschöne Landschaft. Laut Streckenplan geht es nun 18 km bergauf. Dabei stört mich nicht die Steigung, sondern nur meine allzu langsame Geschwindigkeit. Ein junger Randonneur, der nachts sogar 5 Stunden schlief,  begleitete mich ein Stück des Weges. Mit zunehmender Höhe wurde es immer kühler, die Luftfeuchte verdichtete sich zu Nebel und setzte sich auf den Bäumen als Raureif ab. Dieser fror dann schließlich oben auf dem Pass  um durch den vorherrschenden, kräftigen Wind in Form von Eiswürfeln auf mich herunterzufallen. Das erste Stück ging noch moderat bergab, um dann steiler und kurvenreicher zu werden, so dass der Wind  mich von allen Seiten angriff. Aber der Gegensatz könnte nicht grasser sein, quälte ich mich gerade noch durch Nebel und Schnee die Nordseite hoch, strahlte mir hier die Sonne vor blauem Himmel entgegen. Die Fahrt ging bei frühlingshaftem Wetter weiter durch eine immer mehr mediterran wirkende Landschaft und über einiBRM600 2015ge kleinere Pässe. Zuletzt eine weniger auffällige Auffahrt hoch zum Col de la Sausse und dann die mir bereits bekannte atemberaubende, wunderschöne Abfahrt hinunter dem Ziel in Nyon entgegen. Zwei Kilometer vor der Stadt kam mir Nicolas, der Liegeradfahrer von der Mille du Sud entgegen. Mit Freude und Stolz begleitete er mich an Olivengärten vorbei und durch schmale Gässchen seiner Heimatstadt und schließlich zum Ziel.

Das war dann das Brevet, mein erster Wunsch für diese Tour, den ich mir erfüllte. 600 km voller Spannung und mit einem gewissen Zauber,  ein guter Anlass zum Feiern.

Erholungs- Verarbeitungsphase

Natürlich kann man nun wieder nach Hause fahren, doch ich musste dieses Erlebnis noch etwas auf mich wirken lassen und belohnte mich mit zwei Tagen Aufenthalt in der Provence. Am nächsten Tag ging es weiter nach Bédoin. Eine Gruppe fuhr bereits am Nachmittag hoch zum Mont Ventoux. Ich schreckte zurück vor dem starken Wind, besonders wenn man ihn MISTRAL nennt, der mich auf offener Strecke an den Straßenrand drückte. Bekanntermaßen soll  Wind am Morgen nicht so  kräftig wehen, also machte ich mich in der Früh bei blau strahlendem Himmel auf den Weg. Der Mittelteil der Auffahrt führte durch einen Pinienwald und ich genoss trotz 11%iger Steigung die Windstille und das Gezwitscher der Vögel über mir. Ab Chalêt Reynard zeigte sich der Berg in seiner ganzen Pracht, der weiße Turm mit rot weißer Spitze, umgeben von Schnee. Mittlerweile war auch wieder der Wind da  und blies mir kräftig um die Ohren im Wechsel mit fast sakraler Stille. Ich arbeitete mich hoch, ohne zu wissen, was mich an der nächsten Kurve erwartete, kein sich biegender Baum, kein Grashalm, kein Fähnchen wies auf die vor mir liegenden Windverhältnisse hin. Stets auf der Hut bewegte ich mich nach oben, dann eine kräftige Böe von vorne, ich gehe aus dem Sattel, stemme mich dagegen, aber so wird das nichts, springe aus den Pedalen und just in diesem Moment wirft der Wind mein Rad um. Ich halte es fest umklammert am Lenker um es vor Schaden zu bewahren. In dieser nach vorn gebückten Haltung fliegen faustgroße Eisbrocken über mich hinweg und ich begreife, dass der Berg sich mir nicht kampflos übergeben will. Ich blicke über meine linke Schulter hoch zum Giganten der Provence und mir wird bewusst, dass die Natur mir Grenzen aufzeigen will. In Demut gehe ich weiter, so weit wie es der Berg zulässt. Mittlerweile mussten auch die ersten Schneefelder umfahren werden und als ein Weiterkommen nur zu Fuß möglich war, holte mich Manfred ein. Die Freude war groß, eine solch unbeschreibliche Erfahrung mit jemandem teilen zu können. Noch zwei kritische Kehren waren zu meistern bei denen der Wind über den Bergsattel hinweg pfiff und versuchte uns gnadenlos, wie alles hier oben, wegzublasen. Fest auf das Rad gestützt lief ich seitwärts nach oben um dem Sturm wenig Angriffsfläche zu bieten und musste sehen wie sich bei Manfred kurzzeitig beide Laufräder vom Boden abhoben. Oben angekommen wurden wir belohnt mit einer Sicht bis zu den französischen Alpen. Une beauté surnaturelle. BRM600 2015

Die Abfahrt gestaltete sich etwas schneller und ebenso schnell waren  unsere Spuren vom Aufstieg im Schnee wieder verweht. Nur die Spur, die dieser Berg in unseren Köpfen und Gedanken hinterlassen hat, die bleibt für immer.

Das war mein zweiter Wunsch, den ich mir erfüllte, und gleich darauf den Dritten, nämlich im Chalêt ein Portion Ravioli mit lokalem Trüffel zu essen. Und da man ein solches Brevet und die erste Auffahrt zum Mont Ventoux nicht so nebenbei macht, sondern zelebrieren muss, trafen wir uns abends immer zum Feiern in lustiger Runde.

Mehr als nur ein 600er, nicht nur ein Kurzurlaub, eine ganz besondere Reise. Danke, dass ich dabei sein durfte. So schließe ich mit Worten aus der Feuerzangenbowle:
„Die Sehnsüchte die uns treiben, darin wollen wir uns beschreiben.“