Der Geist des Mont Ventoux (300 Kilometer)

Autor
Christoph Molz
Datum
20.05.2014

Zum zweiten Mal in diesem Jahr fahre ich ins Augustiner zum frühstücken. Der 300er Brevet steht auf dem heutigen Tagesplan. Christina ist nicht dabei: sie ist krank. Werner aus Karlsruhe begleitet mich: er hat bei mir übernachtet und startet eine Stunde später mit der zweiten Gruppe. Ich hatte erst am Vorabend realisiert, dass die 8-Uhr-Starter die anstrengendere Route vor sich haben: 4600Hm auf 300km! Und das bei mir direkt nach einem Trainingslager in der Provence, mit 4-maliger Auffahrt zum Mont Ventoux! Beim letzten Aufstieg  drei Tage zuvor war ich am Schluss ziemlich eingebrochen. Ich fühle mich nicht besonders fit; das Training steckt mir noch in den Beinen. Deshalb starte ich mit dem Ansinnen, jederzeit abbrechen zu können, wenn es nicht läuft; eigentlich keine gute Voraussetzung.
BRM300 2014Schon die Auffahrt zum Rinken strengt mich an. Die Gedanken gehen eigene Wege: hinter mir erhebt sich der Geist des Mont Ventoux:"das hast du nun davon, was musstest du auch viermal auf meinen Gipfel hochfahren. Dreh um, das ist zuviel für dich....". Zum Glück kann ich einen Mitfahrer überholen, der sich am Anstieg noch schwerer tut. Eine kleine Motivation. OK, bis zum Rinken werde ich durchfahren. Oben wartet eine kleine Gruppe auf den letzten Fahrer, den ich gerade überholt habe. Sie unterhalten sich mit einem älterem Mann, der mit dem E-Bike dasteht. Das ist doch, denke ich und spreche es aus: "Das ist doch Georg Thoma"! Der erste deutsche Olympiasieger in der nordischen Kombination im Jahr 1960. "Grüß dich", grüßt er zurück, wie wenn wir uns schon lange kennen würden, dabei kenne ich ihn nur vom Sehen. Wahrscheinlich passiert ihm sowas laufend...Er ist inzwischen 76 Jahre alt und immer noch aktiv, und erkundigt sich sehr interessiert, was wir hier machen. Georg Thoma hält seit 1982 den Rekord beim Rucksacklauf (Von Schonach zum Belchen auf Langlaufskiern) im Schwarzwald: 100km in knapp 6 Stunden! Ich brauche um die 10 Stunden.....
Wir fahren weiter: über eine teilweise unbefestigte Straße nach Hinterzarten und dann an den Schluchsee. Es ist regnerisch und die Straßen sind nass. Auch der Anstieg zum Äulemer Kreuz strengt mich an. Wieder erscheint der Geist des Mont Ventoux:" brich ab, da vorne gibts eine gute Abkürzung". Ich kenne sie vom Vorjahr: wir hatten dort abgebrochen, weil Christina durch eine Erkältung geschwächt war. Oben angekommen, erfahre ich, dass es jetzt bis zur Grenze fast nur bergab geht. Ok, dann mache ich halt erst mal weiter bis zur Grenze und vielleicht bis zum Bölchen, dann wird man sehen....BRM300 2014In St. Blasien stärke ich mich, dann fahre ich recht optimistisch weiter. Am Grenzort Laufenburg suchen wir eine Weile nach dem richtigen Weg. Der Aufstieg zum Belchen wird sehr anstrengend. Immer wieder kürzere, aber teilweise sehr steile Anstiege, die mir die Energie aus der ohnehin müden Muskulatur ziehen. Bei einer Abfahrt hat die Frau, die uns begleitet, einen Platten. Ich helfe beim Schlauchwechsel, dann gehts weiter. Sie fährt viel zu dicke Gänge: das Rad hat keine Bergübersetzung. Ich zweifle daran, dass sie durchfährt. (Zu Unrecht, sie hat es geschafft!). BRM300 2014Es gab einige Pannen unterwegs. Ich muss jetzt mein eigenes Tempo fahren und verliere die anderen aus den Augen. Nach gefühlten 100 Anstiegen kommt endlich das Belchenhaus in Sicht! Die sauteuren Spaghetti tun mir richtig gut!
Nach kurzer Pause beginnt der Anstieg zum Pass. Oben muss ich nochmal eine kurze Pause machen, die ich fürs photographieren nutze, danach gehts erst mal lange abwärts, wodurch ich neue Kräfte sammeln kann. Der Anstieg zum Scheltenpass vor Delemont strengt wieder sehr an. BRM300 2014Am schlimmsten ist mir allerdings nach Delemont die Steigung nach Movellier in Erinnerung. Wieder erscheint der Geist des MV:"Dreh um nach Delemont und steige in den Zug". Irgendwie komme ich ohne schieben hoch. Die nächsten Anstiege werden kürzer und weniger steil. Zwischenzeitlich beginnt es zu regnen, teilweise recht stark, allerdings nur für ca. eine Stunde. In Ferrette suche ich mindestens 20 Minuten nach dem richtigen Weg, (wenn ich mich recht erinnere, hatte vor zwei Jahren hier auch Urban Orientierungsprobleme....) dann lasse ich mir von Einheimischen den Weg nach Feldbach erklären. Ich bin jetzt ziemlich genervt, treffe aber in Feldbach bei der Kontrollstelle wieder auf eine neue Gruppe, die mich aufmuntert. Es beginnt zu dunkeln, und wir schalten unsere Lampen ein. 15 km weiter stehen wir im Dunkel der Nacht irgendwo in irgendeinem Kaff und stellen fest, dass wir uns verfahren haben. Jetzt haben wir ein Problem: Ein Navy ist ausgefallen und in den Unterlagen ist nur die Wegstrecke vermerkt. Zu allem Unglück erzählt uns ein französischer Autofahrer, den wir fragen, Unsinn: er gibt uns den falschen Ort an! Nach kurzer Zeit der Ratlosigkeit fällt mir ein, dass ich ja eine Landkarte aus dem Augustiner mitgenommen habe. Das mache ich immer, schon alleine, um jederzeit abbrechen zu können und eine Zugverbindung zu finden. Die Karte führt uns wieder auf die Strecke.
Kurz vor Kembs löst sich  die kleine Gruppe auf. Zwei biegen in einem Ort rechts ab, ich und ein anderer Randonneur lassen uns vom Schild nach Kembs, welches in eine andere Richtung zeigt, irritieren und stehen unschlüssig herum.  Kurze Zeit später fährt ein weiterer Teilnehmer vorbei, der sich sicher ist, dass wir richtig sind! Wir folgen ihm. Nach Kembs beginnt die lange Fahrt Richtung Fessenheim. Meine beiden Mitfahrer benötigen zwischendurch  eine kurze Pause, wodurch uns eine andere Gruppe überholt. Ich schwinge mich wieder in den Sattel, um dort mitzufahren, denn ich fühle mich gerade einigermaßen fit und möchte bald zuhause sein. Die Gruppe hat ca. 200m Vorsprung und ist schnell unterwegs, und ich realisiere bald, dass ich den nicht zufahren kann. So fahre ich alleine durch die Nacht, weit vor mir die Lichter der Gruppe, die ganz langsam kleiner werden. Allerdings habe ich erstaunlicherweise wieder Kräfte gesammelt und es läuft richtig gut (treten geht immer....). Das fasziniert mich immer wieder ,ebenso wie Alleinfahrten im Dunkeln, vor dir nur der Lichtkegel des Scheinwerfers.  Nur die wenigen Autofahrer, die an mir vorbeidüsen, machen mich etwas besorgt. Ich wende jedes Mal den Kopf nach hinten, wenn ich ein Auto höre, damit sie auch meine Stirnlampe sehen. Das klappt wohl ganz gut, sie überholen  mit gebührendem Abstand. Ansonsten trete ich mit hoher Frequenz vor mich hin und wundere mich, was noch geht! Vermutlich habe ich Rückenwind. Endlich kommt das AKW Fessenheim in Sicht, danach gehts ab Richtung Autobahntankstelle. Dort tanke ich nochmal Energie und treffe doch tatsächlich Werner! Er fährt gerade wieder weg, als ich ankomme. Kurze Zeit später machen wir uns auf den Weg Richtung Hartheim. Nach 500m ein Knall: wieder ein Plattfuß! Der Fahrer äußert auch gleich Bedenken, ob er weiterfahren kann,(so war es dann auch) denn er hat einen schlauchlosen Reifen montiert. Die mitfahrende Frau, die ihn anscheinend gut kennt, dreht mit ihm um, und ich fahre alleine weiter, mit einem etwas mulmigen Gefühl, denn vor zwei Jahren wurde, nur wenige km entfernt, ein Randonneur nachts von einem Auto übersehen und überfahren. Es regnet. Nach zwei Kilometern kommen mir meine vorherigen Mitfahrer entgegen. Sie hatten in Bremgarten nach einer Essotankstelle gesucht! Ich schicke sie zurück zum Autohof. In Bremgarten übersehe ich (als Einheimischer!!) die Abzweigung Richtung Feldkirch und biege eine Straße später ab. Auch hier hilft mir wieder die Straßenkarte, die mich nach Feldkirch führt. Kurz vor Hausen überholt mich eine Gruppe, und ich hänge mich dran. Durch den Regen, der meine Brille fast undurchsichtig macht, und die Nacht sehe ich nicht viel und verlasse mich auf die Anderen. Irgendwann schwant mir übles: wo fahren die denn hin???Nach einem kurzen Gespräch wird mir klar: ich bin in einer 9-Uhr-Gruppe gelandet, die einen anderen Weg hat!! Schon wieder verfahren. Zum Glück kenne ich mich jetzt aus: ich fahre über den Stadtteil Rieselfeld zur Dreisam und von dort aus zurück nach Umkirch. Was für ein Umweg! Die Suche nach der Zange endet erfolglos, deshalb mache ich zwei Bilder in der Hoffnung, dass das akzeptiert wird (es wurde akzeptiert:-)). Dann gehts die Dreisam hoch Richtung Innenstadt. Kurze Zeit später die Erkenntnis, dass meine Karten aus der Lenkertasche gerutscht sind! Ich kriege die Krise: dort steckt auch immer die Stempelkarte!!  Aber da fällt mir gleich darauf ein: bei allem Pech heute ist mir jetzt das Glück hold: ich hatte vergessen, sie nach dem letzten Stempeln dort wieder reinzustecken und sie in meinem Brustbeutel verstaut, den ich umgehängt habe! Ich erspare mir deshalb die Suche und fahre ins Augustiner, wo mir zum letzten Mal der Geist des Mont Ventoux erscheint: Bodo steht vor mir, oben so kahl wie der Berg und sagt: " Warum bist du nicht schneller gefahren, die ersten kamen trocken an". Mit diesem Bild im Kopf muss ich nun doch lachen.
Da meine Füße im Wasser stehen (die wasserdichten Socken lassen das Wasser von oben rein, aber unten nicht mehr raus...) fahre ich gleich heim und genieße die warme Dusche.
Das war, soweit ich mich erinnere, mein bisher chaotischster Brevet!!


Chris