Bölchen II - Jugendlicher Leichtsinn

Autor
Martin
E-Mail
mhaagen@fastmail.fm
Datum
06.07.2019

Wenn man es am 01 Januar aus dem Bett geschafft, die Neujahrsbrezel gegessen, den ersten, vielleicht auch schon zweiten, Kaffee getrunken hat und man sich beim Blick aus dem Fenster nicht nach Radfahren fühlt ist ein guter Moment um sich bei ARA Breisgau für die Brevets im neuen Jahr anzumelden. So kann man sich zum Beispiel für den „Bölchen I Brevet“ anmelden, eine durchaus anspruchsvolle Ausfahrt mit 300 km und ca. 3300 HM, welche Anfang Mai – also noch eher zu Beginn der Radsaison - stattfindet. Für manche Radler ist die Teilnahme an einem 300er Highlight, für viele dieses Jahr darüber hinaus noch eine „Pflicht“ zur Qualifikation für Paris-Brest. Aus welcher Motivation auch immer man sich für einen 300er bei ARA Breisgau anmeldet - der „Bölchen I“ ist eine gute Wahl. Es besteht absolut keine Notwendigkeit sich für den „Bölchen II Brevet“ anzumelden, bei welchem am selben Tag noch rund 1100 HM mehr auf den 300 km zu bewältigen sind, insbesondere da der Randoneur Breisgauer Prägung ja auch schon Monate im Voraus mit einer Sicherheit die zum „Bölchen Brevet“ aufziehende Kaltwetterfront vorhersagen kann, bei der selbst Jörg Kachelmann vor Neid erblasst. Wenn sich der Autor dieser Zeilen also doch, wider besseres Wissen, für den „Bölchen II Brevet“ angemeldet so ist jugendlicher Leichtsinn sicher keine ganz falsche Erklärung.

Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass besagter Autor am 01.01 dieses Jahrs auf dem Rennrad saß, bei Nebel, Niederschlag und Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt den Schauinsland hinunter musste und dabei so gefroren hat, dass er direkt krank geworden ist und bettlägerig merken musste, dass diese Fahrt nur bedingt vernünftig war. Aber in vier Monaten, Anfang Mai, wird es ja sicher ganz anders werden, da wird es lediglich Schweiß sein, der auf das Oberrohr tropft – so muss er wohl gedacht haben.

Vier Monate später stand der 300er, genauso wie die obligatorische Kaltwetterfront, vor der Tür und meinem sonst so treuen Radkompagnon wurde schon beim Blick in den Wetterbericht so kalt, dass er Teilnahme rundum abgesagt hat – Widerrede zwecklos.

Während ich also am Vorabend des Brevets meinen naiven Anmeldefehler bitter bereute hat mich der Zufall, pünktlich um 18:30, zum Augustiner geführt wo die Organisatoren zum „Randoneursplausch“ geladen hatten. Plötzlich kam mir die Lösung - eine nachträgliche Ummeldung könnte das Problem auf ein hoffentlich ertragbares Maß reduzieren. Da wohl viele der Angemeldeten eh nicht starten würden wollte ich dies einfordern und Diskussionen gar nicht erst zulassen, zumal ich mit der Startgebühr von 18 € (inkl. Frühstück) ja Kunde und demnach König war – so dachte ich während ich den Raum betrat und… mich allein wieder fand am Randoneurstisch.

Da dämmerte es mir, dass die Lösung für die anstehende „Prüfung“ nicht in einer Ummeldung liegen könne. Als Alternativplan wurden sämtliche an der Strecke liegenden Bahnhöfe notiert und eine Tasche mit einem zweiten Satz Winterkleidung gepackt – die Winterhandschuhe waren eh schon in der Lenkertasche. „Man dürfe die Option auszusteigen nicht ernsthaft in Betracht ziehen da dies sonst zwangsläufig auch geschehe“ erinnerte ich mich, fast schon erleichtert, von erfahreneren Randnoneuren gehört zu haben. Als bereits nach 20km, auf dem Rinken, der Graupel (Schneekristalle mit angefroren Wassertröpfchen) einsetze fragte ich mich welcher Bahnhof es wohl sein würde. Meine Aufmerksamkeit widmete ich allerdings erst der nassen Abfahrt nach Hinterzarten und dann einem Gespräch über optimale Regenkleidung welche bei allem Wetter von innen und außen trocken hält. Randoneure wissen, dass diese Frage alles andere als trivial und einfach zu beantworten ist und so überrascht es im Nachhinein nicht, dass ich die erste Kontrollstelle nach 60km in St. Blasien erreicht habe, ohne eine finale Antwort darauf zu finden – allerdings unter Umständen, welche es rechtfertigen auch weiterhin darüber nachzudenken. Hinab zum Rhein ging es dann, nach kurzem Aufstieg, auf einem kleinsten, autofreien Sträßchen durch das traumhafte Schwarzatal. Das ist so schön, dass ich mir nicht sicher bin ob ich mich täusche, wenn ich meine, dass dort tatsächlich die Sonne rauskam. Unten angekommen war es nicht mehr weit bis Gurtweil wo es beim Radgeschäft Schäuble nicht nur den zweiten Stempel, sondern auch Wasser und Bananen gab.  Bald danach hatten wir uns durch das verkehrsreiche Waldshut gekämpft, den Rhein überquert und etwas flussabwärts begleitet um uns dann an die weniger berühmt aber in Ihrer Summe um so berüchtigteren … ja was zu machen? Berge kann man diese Erhebungen nicht nennen, Wellen könnten das Bild eines fröhlichen Surfers wecken, der mit Leichtigkeit auf ihnen reitet. Spätestens das Stück am Ortsende von Oltingen ist zu diesem Zeitpunkt dann mit „Wand“ wohl nicht ganz falsch beschrieben. Auf diesen knapp 40 km, deren Ziel das Pasta Buffet im Böllchenhaus ist, war ich meist alleine unterwegs und schließe mich denen an, welche diesen Abschnitt als härtesten der Freiburger Brevets bezeichnen. Nach jeder erklommenen Rampe folgte, mit Ausnahme einer kurzen Abfahrt die einen Großteil der mühsam erarbeiteten Höhenmeter wieder zunichtemachte, die Nächste und Nächste und Nächste. Und so kroch ich voran, korrigierte regelmäßig meine erwartete Ankunftszeit bei der nächsten Kontrolle nach hinten und bereute meinen jugendlichen Leichtsinn, der mir Etappe zum Böllchenhaus unnötig schwer macht. Wenige Kilometer vor dem Zwischenziel bei knapp 150 km setzte, wie könnte es anders sein, wieder der Regen ein und es war wohl nur die Aussicht auf das Pasta Buffet im Warmen, welches mir die letzten Schotterstraßen hinauf und dann wieder etwas hinab zum lang ersehnten Böllchenhaus verhalf.

Nach der Pause machte ich mich mit Philip auf den Weg und die verbliebenen knapp 100 Hm zum Chilchzimmersattel waren, frisch gestärkt, kein großes Hindernis. Die Gedanken waren eh vor allem beim Wetter und der Frage was uns noch erwarten wird auf der zweiten Hälfte des Brevets. Es galt vor allem noch den Scheltenpass mit seiner Höhe von 1050m zu überqueren… Als wir uns dann, auf einem kleinen Sträßchen, an seinen Anstieg machten wurde aus dem wieder eingesetzten Niederschlag tatsächlich mehr und mehr Schnee – wie es, so viel Ehrlichkeit muss sein, der Wetterbericht auch für diese Uhrzeit vorhergesagt hatte. Obwohl ich in den letzten Jahren schon den ein oder anderen Brevet habe absolvieren dürfen war das doch eine besondere Situation da das Wetter und das zunehmende weiß die Landschaft noch ruhiger, noch friedlicher machte – außer uns war niemand auf der Straße. Die Winterhandschuhe wärmten meine Hände und so konnte ich den Aufstieg mit dem Wissen, dass es der letzte Große dieses Brevets ist genießen. Viel hält uns nicht auf dem Pass aber die Situation mit der eingeschneiten Straße will dann doch noch auf dem Foto festgehalten werden. Beim Losfahren dann die „Überraschung“ nicht mehr in die Klickpedale zukommen, und zu merken, dass die Schaltung gar nicht, die Bremsen kaum noch funktionieren – und der Schneematsch auf der Straße kontinuierlich dicker wird. Die Erkenntnis, dass wir mit unseren 23 mm hier eigentlich nichts verloren haben hilft jetzt erstmal nicht weiter, wir müssen ja hinab. Und so rollen wir vorsichtig hinunter und ich freue mich über jede Kurve, die uns weiter hinab ins sichere Tal bringt. Die armen Fahrer die noch nach uns kommen… Irgendwann war es geschafft, der Niederschlag war nur noch Regen und selbst der wurde schwächer. Und so traten wir die 15 km bis Delmont kräftig in die Pedale um wieder warm zu werden. Delmont – das ist doch einer der Orte mit Bahnhof… und was wir gerade erlebt hatten ist ja wohl mehr als Rechtfertigung genug, um in den Zug zu steigen dachte ich. Philip zog das für sich nicht einmal in Betracht. Für ihn waren die verbleibenden 120 km, welche mich jedes Mal nerven und kaum enden wollen, scheinbar nicht mehr als ein kurzer Nachhauseweg und sowieso immer ein Highlight dieses Brevets... Wie unterschiedlich die Wahrnehmung doch sein kann. Seine Selbstsicherheit hat mir auf jeden Fall imponiert und ihr ist es wohl auch zu verdanken, dass sich auch bei mir die Erkenntnis breitgemacht hat, dass die verschneite Abfahrt vom Scheltenpass, zumindest jetzt im Nachhinein, für mich kein Grund mehr ist den Brevet vorzeitig zu beenden - zumal die Taschen gefüllt mit Essen und trockener Kleidung waren. Im McDonalds bekamen wir unseren Stempel, eine Tasse Kaffee und in unserer tropfenden Montur auch viele fragend-interessierte Blicke bis Philip sich dann an sein Highlight begab während ich mich daran machte die verbliebenen nervenden Kilometer, einen nach dem anderen, zu erarbeiten.

Tatsächlich war es dann schön mit Philip durchs winterliche Sundgau in die Nacht zu radeln und die schneebedeckten jungen Bäume, die sich zum Teil tief über die Straße wölbten, hätte ich aus dem Zug wohl auch nicht gesehen. Mit zwei kurzen Pausen, in einer Bushaltestelle und an einer Turnhalle, ging es meist zu zweit, teilweise in der Gruppe nach Bremgarten und nach einer Bockwurst an der Aral Tankstelle dann auch an die letzten Kilometer Richtung Ziel. Ob mir diese Etappe tatsächlich so gut gefallen hat kann ich im Nachhinein nicht mehr mit Gewissheit sagen da die Abfahrt vom Scheltenpass die anderen Erinnerungen an dieses Brevet doch übertönt. Mit Sicherheit kann ich aber sagen, dass ich sehr dankbar, erleichtert und zufrieden war als wir dann tatsächlich um kurz nach halb zwei den warmen Augustiner betraten… es war eine intensive Fahrt.